Naturmedizinische Behandlung – Aus- und ableitende Verfahren
Aus- und ableitende Verfahren sind seit der Antike bekannt und gehörten bis ins 19. Jahrhundert zum Behandlungsrepertoire der damaligen konventionellen Schulmedizin. Heute werden sie leider oft zu den Außenseitermethoden gerechnet und von der Schulmedizin rigoros abgelehnt. Trotzdem gehören sie zur Ausbildung für die ärztliche Zusatzbezeichnung „Naturheilverfahren“.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts rettete der Wiener Frauenarzt Dr. Bernhard Aschner (1883–1960) die aus- und ableitenden Verfahren vor der Vergessenheit. Er begründete die nach ihm benannten Aschner-Verfahren mit dem Ziel, schädliche Stoffe in den betroffenen Körperregionen und Organen aufzulösen und ihre Ausscheidung aus dem Körper zu fördern.
Viele, insbesondere medikamentöse Aschner-Verfahren werden wegen ihrer möglicherweise giftigen Wirkungen heute nicht mehr praktiziert und können ohne das Risiko von Nebenwirkungen durch moderne homöopathische Arzneien ersetzt werden. Aber einige seiner Verfahren werden in begründeten Fällen auch heute noch angewandt – ins besondere in der Schmerz- und Rheumatherapie, meist, wenn andere Behandlungen nicht helfen. Zu diesen heutigen Aschner-Verfahren gehören die Blutegeltherapie, das Cantharidenpflaster, das Baunscheidtieren und die Schröpfkopftherapie.
Bluegeltherapie
Der Blutegel (Hirudo medicinalis) ist ein Ringelwurm und lebt vom Blut von Fischen, Fröschen und Säugetieren. Für die medizinische Anwendung wird er allerdings gezüchtet. Bei rheumatischer Arthritis oder Gelenkschwellungen bei Arthrosen werden ein oder mehrere hungrige Egel im schmerzhaft betroffenen Gebiet angesetzt. Dort pressen sie ihre Mundsaugnäpfe auf die Haut und beißen mit ihren über 200 Kalkzähnchen hinein. Das tut übrigens nicht weh, nur ein kleiner Pieks ist zu spüren. Jeder Blutegel saugt sich mit rund zehn Millilitern Blut voll und fällt nach 30 bis 60 Minuten von selbst wieder ab.
Beim Saugen geben die Egel mit ihrem Speichel Hirudin in Bisswunde und Blutbahn ab, ein Protein, das die Blutgerinnung verhindert. Deshalb blutet die Wunde noch einige Zeit nach – das kann bis zu zwölf Stunden dauern und ist auch erwünscht. Der Patient verliert dadurch pro Egel noch etwa weitere 40 Milliliter Blut. Der Speichel des Blutegels enthält mindestens 30 heilsame Substanzen, zum Beispiel Histamin, das die Blutgefäße in dem betreffenden Bereich erweitert, Hirudin und Heparin, die das Blut dünnflüssiger machen, und das entzündungshemmende Egel.
Mit dem Blut verliert der Rheumapatient auch im Gewebe gespeicherte Schadstoffe und entzündungs- vermittelnde- und schmerzauslösende Substanzen. Das Verfahren ist zwar zeitintensiv, sollte aber ins besondere bei hartnäckigen Fällen, die anderen Behandlungen trotzen, erwogen werden. Mögliche Anwendungsgebiete sind die Kniegelenks- und Daumenarthrose, Kreuz-Darmbeingelenk-Arthritis, das Lendenwirbelsäulen-Syndrom und andere Erkrankungen. Die Behandlung ist praktisch schmerzlos und frei von unerwünschten Nebenwirkungen.
Die Geschichte der Blutegeltherapie
Der Blutegel war schon den Naturvölkern bekannt und wurde 100 Jahre vor Christus von dem griechischen Arzt und Dichter Nikandros von Colophon erwähnt. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kam die Blutegeltherapie so in Mode, dass man von „Vampirismus“ sprach. Schon bei kleineren Unpässlichkeiten ließ man zwischen 60 und 80 Egel am Patienten saugen; bei einer ernsteren Krankheit waren es bis zu 100.
Dass nicht jeder Kranke diese „Kur“ überlebte, verwundert nicht. So mancher starb an zu hohem Blutverlust. Zur naturwissenschaftlich orientierten Medizin passte die Blutegeltherapie schließlich nicht mehr. Und so geriet sie für lange Zeit in Vergessenheit. Erst 1923 erhielt die Blutegeltherapie durch einen französischen Chirurgenkongress wieder neuen Auftrieb. Die rekonstruktive Chirurgie hat die sensiblen Blutsauger in den 80er Jahren wiederentdeckt. Seitdem erleben sie eine Renaissance in der Heilkunst. In Deutschland werden heute zwischen 300.000 und 400.000 Blutegel in der medizinischen Therapie eingesetzt. Bedingt durch Umweltveränderungen und übermäßige Verwendung zu medizinischen Zwecken ist die Zahl der natürlich vorkommenden Blutegel in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen.
Cantharidenpflaster
Das direkt auf die Haut des schmerzhaften Gebietes aufgeklebte Cantharidenpflaster enthält Cantharidin. Das ist das Gift der Spanischen Fliege. Es reizt die Haut sehr stark und führt zu einer verbrennungsähnlichen Blase. Das Pflaster bleibt maximal zwölf bis 16 Stunden auf der Haut, was mit einem stark brennenden Schmerz einhergeht. Nach Entfernung des Pflasters wird der Inhalt der entstandenen Blase abgesaugt und ein steriler Verband angelegt.
Erst nach vollständiger Abheilung der Blase, in der Regel nach vier bis sechs Wochen, kann diese Behandlung bei Bedarf wiederholt werden. Das Cantharidenpflaster wirkt durchblutungssteigernd, abschwellend, entzündungshemmend und schmerzlindernd. Die Hautreizung regt außerdem das Immunsystem an.
Das Pflaster entzieht dem betroffenen Areal Lymphflüssigkeit, die Hautblase enthält Schadstoffe, Entzündungs- und Schmerzvermittler, die auf diese Weise aus dem Entzündungsgebiet herausgezogen werden. Im Handel ist das Cantharidenpflaster zum Beispiel unter dem Namen „Spezialpflaster Bock" erhältlich. Bei Nierenkrankheiten darf es nicht angewendet werden. Auch sollte es ausschließlich von einem mit dieser Methode vertrauten Therapeuten angewendet werden! Eine Selbstbehandlung mit dem Cantharidenpflaster ist nicht ratsam.
Baunscheidtverfahren
Ähnlich dem Cantharidenpflaster wird beim Baunscheidtieren eine künstliche Hautentzündung erzeugt. Die Haut wird im zu behandelnden, schmerzhaften Areal mit speziellen Geräten leicht und nur oberflächlich verletzt. Hierzu wird zum Beispiel ein Baunscheidt-Schnepper oder andere von Carl Baunscheidt entwickelte Instrumente verwendet. Anschließend wird die verletzte Stelle mit einem haut reizenden Öl eingerieben.
In den darauf folgenden Tagen bilden sich sterile, entzündliche Pusteln, über deren Inhalt Schadstoffe und entzündungs- vermittelnde Substanzen ausgeleitet werden. Die Anwendung beschränkt sich heute meistens auf diffuse Arthrosen der kleinen Wirbelsäulengelenke und die Bechterewsche Erkrankung.
Schröpfkopftherapie
Ähnlich einer Bindegewebsmassage steigert die Schröpfkopftherapie die Durchblutung und regt den Lymphfluss an. Durch Aufsetzen eines speziellen Schröpfglases auf die Haut wird ein Unterdruck erzeugt und die Oberhaut sanft von den tiefen Hautschichten abgehoben. Sie wird leicht in das Glas hineingezogen. Neben diesem „trockenen“ Schröpfen ohne Blutaustritt kann auch „blutig“ geschröpft werden. Dazu wird die Haut im betroffenen schmerzenden Gebiet gestichelt oder leicht eingeritzt und ein Schröpfglas darüber angesetzt.
Blut und Lymphe werden herausgezogen, nebst den darin enthaltenen Schadstoffen und schmerz- sowie entzündungsvermittelnden Stoffen. Die Schröpfkopfbehandlung zeigt sehr gute Wirkung unter anderem bei schmerzhaften Muskelverspannungen im Bereich der Wirbelsäulenstreckmuskulatur, aber auch beim Tennisellenbogen und bei anderen rheumatischen Beschwerden.